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Das ausgelagerte Gedächtnis

Martin Hicklin


99 % oder nahezu alle! Nur noch einer oder eine unter hundert jungen Menschen zwischen 12 und 19 Jahren, die in der Schweiz zur Schule gehen, hat kein eigenes Handy. Das bestätigt die neuste Ausgabe der James-Studie, die seit 2010 alle zwei Jahre dem Medien- und

Freizeitverhalten der Schweizer Jugend nachforscht. Eine ganze Generation von jungen, bildungshungrigen Menschen hat freien Zugang zu mächtigen Wissensbeständen, zu Bildern und Geschichten aus aller Welt, und theoretisch erst noch die Möglichkeit, mit jedem anderen Mitglied des digitalen Universums in Kontakt zu treten. Eigentlich eine Riesenchance, wenn das alles auch von ohrenbetäubendem Rauschen und tausend ablenkenden Versuchungen begleitet wird.


Natürlich gehen unsere Gedanken zuerst zu den gut zehn unter den schliesslich 1074 im Klassenzimmer schriftlich für James Befragten, die den Mut hatten, zuzugeben oder zugeben mussten, dass sie irgendwie (noch) nicht zu den Digital Natives zählen. Vielleicht besonders Begabte, die keine digitale Verlängerung brauchen? Originale? Mobbinggefährdete? Immerhin: Ab 18, so zeigt die Studie, schliessen sich die letzten Lücken. Jetzt sind 100 % ausstaffiertund im Netz. So weit sind die reiferen Generationen am andern Ende der Skala noch nicht, aber stehen nicht mehr weit davon. Sie haben in den letzten fünf Jahren mächtig aufgeholt.


Noch nie hatten die Menschen, und vor allem so früh, so viel Zugriff auf Information jeder Art wie heute. Verglichen mit dem, was ein 12-jähriger sagen wir mal in den sechziger Jahren selbst in einem wohlhabenden familiären Umfeld zur Verfügung hatte, ist der Sprung gigantisch. Auf Schritt und Tritt möglich macht ihn dieser kleine, noch teure Supercomputer in Hand und Tasche, alle zwei Jahre ersetzt durch ein neues Modell, das noch mehr kann. Und mehr kontrolliert. Denn das elegante Gerät kann sowohl als Wundertüte wie auch als digital operierende datenhungrige Fussfessel gesehen werden, die mir zu- und mich abhört,

registriert, wo ich bin und was ich konsumiere. Sie verrät laufend etwas über mich und häuft andernorts Datenberge an, aus denen die derzeit so oft zitierte künstliche Intelligenz ihre geheimen Schlüsse zieht. Was letztlich darauf abzielt, mich sanft zu lenken oder zu bevormunden. Erst die flächendeckende Ausrüstung mit diesen Endgeräten ermöglicht die Digitalisierung des Lebens.


Obwohl im Zeitraffer der technisch bewirkte gesellschaftliche Wandel enorm erscheint, wächst im Alltag die Rolle unserer smarten Helfer nur in scheinbar kleinen Schritten. So werden wir mehr und mehr mit guten Gründen und intelligenten Apps dazu verführt, alles Mögliche zu delegieren. Die Fotosammlung und das Tagebuch, die Korrespondenz und sowieso die Adresskartei samt Agenda, und dazu manch anderes, was wir früher im Gedächtnis behalten mussten. Die begründete Erwartung, dass benötigtes Wissen über ein zwei Streicheleinheiten am eleganten Begleiter in Speicher oder Netz erreichbar ist, vermindert nachweislich die Detailtreue der im Gedächtnis gespeicherten Information. Statt die Dinge selbst zu memorieren, behalten wir häufiger nur noch, wo und wie wir sie mal gefunden haben.


Doch unser Gehirn hat ja auch die Aufgabe, laufend Vermutungen über die Zukunft anzustellen. Den nächsten Treppentritt oder das Thema einer Kolumne. Dazu braucht es reichlich Material. Mit beschränktem Gedächtnis fällt das flacher aus. Guter Grund, es ab und zu ohne Krücken zu versuchen und das Gehirn mal von der digitalen Leine zu lassen.

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