Aus der Zeit gefischt: Martin Hicklin
Im September 2020 war für H. Holden Thorp das Mass voll und Zeit, etwas Unerhörtes zu tun. In Science, dem führenden wissenschaftlichen Journal der USA, bezog der Chefredaktor im Präsidentenwahlkampf unmissverständlich Partei. Zum ersten Mal in der Geschichte des Blattes, dessen Archiv bis auf das Jahr 1880 zurückreicht. Unter dem Titel «Trump log über Wissenschaft» listete Thorp in seinem Editorial auf, wie der mit allen Mitteln um seine Wiederwahl kämpfende Donald Trump Covid-19 gegen besseres Wissen verharmlost und damit Tausende von Leben geopfert habe und sprach von anderen Unwahrheiten und Lügen, die in
ihrer Häufung alles übertreffen, was man bisher aus der Politik kannte. Es war ein radikaler Bruch mit der bisher üblichen vornehm distanzierten Haltung eines hochangesehenen Journals, das sich den reinen Idealen von Wahrheitssuche und Transparenz der Wissenschaft verpflichtet erklärt, aber darauf zu vertrauen schien, dass Argumente, wenn sie mal wissenschaftlich fundiert sind, von selbst überzeugen. Zwar hatte Science hie und da Kritik an politischen Aktionen oder Unterlassungen geübt, sich zu Themen wie Kreationismus und Intelligent Design klar geäussert, aber sonst und besonders bei Wahlen auf gebührende
Distanz zu der nach anderen Kriterien als die Wissenschaft funktionierenden Politik geachtet. Thorp blieb nicht allein. Fast gleichzeitig begründete auch Amerikas ältestes Wissenschaftsmagazin, der seit 175 Jahren populäre Wissenschaft vermittelnde Scientific American, warum man erstmals in der Geschichte des Blattes eine Wahlempfehlung abgebe und nur Joe Biden wählen könne. Auch hier eine lange Liste von Vorwürfen, etwa dass die eigentlich als von der Administration unabhängigen Agenturen EPA (Umwelt) und FDA (Arzneimittelbehörde) politisiert und ihre einst hochangesehenen wissenschaftlichen Stäbe isoliert und verspottet würden. Als drittes bedeutendes amerikanisches Journal schrieb das hochgeachtete New England Journal of Medicine vom «Sterben im Führungsvakuum»,
und warum man den ruchlosen, die Wissenschaft verachtenden Amtsinhaber nicht in einer Wahl bestätigen dürfe.
Als viertes Journal begründete Nature – mit Science in den ersten Rängen – am 15. Oktober, dass man Biden für die einzig richtige Wahl halte. Er müsse reparieren, was Trump beschädigt habe, und den Ruf der USA und das Vertrauen wiederherstellen. Gleichzeitig versprach Nature, die Berichterstattung über politische Themen massiv zu verstärken. Natürlich fragt sich, wie viel eine solche Kehrtwende zu klarer Sprache, so historisch sie auch sein mag, auch in Zukunft bewirken kann. Thorp hat vielleicht 100 000, allerdings hochqualifizierte Leserinnen und Leser und weiss, dass es eine weit grössere Reichweite und Verankerung in sozialen Medien braucht, um richtig gehört zu werden. Um Stärken dazuzugewinnen, will Science sich mit Partnern zusammentun, hat Thorp in einem Interview mit Wired angekündigt. Wie weit das gelingt, wird man 2021 sehen. Dass das Land mit den besten Expertinnen und Experten auf den einschlägigen Gebieten und einer brillanten biomedizinischen Gemeinschaft die Corona-Pandemie derart schlecht bewältigt, wird als Demütigung erlebt. Die Administration habe statt auf Experten auf schlecht informierte, sogenannte Opinionleaders und Scharlatane gesetzt, die die Wahrheit eher verschleierten und blanke Lügen verbreiten halfen, klagte das New England Journal of Medicine. Auch wo es um den Klimawandel geht.
Der Aufstand der Journale kommt spät. Er ist aber ein starkes Zeichen auch gegen innen, dass man sich gegen das Aufkommen einer neuen Normalität wehren muss, wo eine hochentwickelte Gesellschaft es als alltäglich und kaum der Rede wert findet, wenn ihre gewählte Führungselite nach Belieben und politischem Bedarf die Wahrheit verdreht und
sich um wissenschaftlich fundierte Beratung foutiert, wenn sie nicht zu den politischen Absichten passt. In einer schwierigen Zeit, wo populistische Gaukler Konjunktur haben,
kann man der Welt nur wünschen, dass der Schub gross genug wird, um der Wissenschaft eine neue starke Stimme zu geben.
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