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Ein Hilferuf aus der Hängematte

Kein wahrhaftigerer Ort als die Hängematte, um zwischen zwei Stämmen über das Wesen eines Baumes und das Schicksal der vom Verschwinden bedrohten Baumwelten nachzudenken – Versuch einer persönlichen Annäherung an diese arg marginalisierten Persönlichkeiten des Pflanzenreichs. – Ruedi Suter



« Nicht träumen …» Die elterliche Ermahnung am Esstisch an den siebenjährigen Sohn blieb in der Regel wirkungslos. Ich sass da, vergass das Kauen und starrte zum Fenster hinaus auf diesen faszinierenden Baum. Eine Schirmakazie, die einsam und einem Monument gleich im Garten stand. Sie verband Himmel und Erde, sie wirkte stolz, aber auch freundlich, ja beruhigend. Dabei war sie belebt. Nicht nur mit Insekten und zahllosen Kleinstlebewesen, die sie besuchten. An ihr baumelten die Hängenester der bunten Webervögel. Auf ihr stritten Paviane, manchmal setzten sich Geier auf ihre flache Krone und in seltenen Nächten erlebte

sie sogar den Besuch eines Leoparden oder von Elefanten. Allein ihre Silhouette aber reichte aus, um mich zu entrücken.


Hat mir diese Schirmakazie den Weg für die Zukunft gewiesen? Hat sie mir schon als Kind zeigen wollen, dass auch Bäume zu respektierende Lebewesen sind? Sie und natürlich der Chinarindenbaum, den ich sozusagen verinnerlichte, weil ich regelmässig sein Chinin gegen die Malaria schlucken musste?


Habe ich später als Berichterstatter deshalb gegen die unaufhörliche Vernichtung der lebenswichtigen Baumwelten auf unserem Planeten angeschrieben? Ich weiss es nicht. Ich

meine heute aber, dass mir meine Kindheit in den 1950er-Jahren auf einem einsamen Aussenposten im kongolesischen Katanga Lehren fürs Leben erteilte. Seltsamerweise immer in Verbindung mit Bäumen, ohne die es auch keine Hängematten gäbe.


Hinter «meiner» Akazie wurde der mit Steppengras bewachsene Garten durch die grosse Wildnis abgelöst. Denn hier verabschiedete sich das Hochplateau. Es fiel ab in eine unendliche Ebene des ursprünglichsten Afrikas – bis hin zum Horizont nichts als Bäume, Büsche, Termitenhügel, Gras und Wildtiere jeder Art und Grösse.


Eines Tages durfte ich in Begleitung da hinuntersteigen. Der gutmütige Babu passte auf mich auf. Wir stiessen durch das Dickicht bis zu einem Baum mit einer verführerischen Liane. Babu merkte sofort, was ich wollte. «Nicht anfassen!» rief er. Verdutzt sah ich den alten Afrikaner an, sein Gesicht drückte Autorität und Sorge aus. Aber ich streckte den Arm aus, nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Jetzt schrie Babu. Lustig, musste ich gedacht haben, sprang und baumelte an der Liane. Jetzt war Babu richtig wütend. Er riss mich von der Kletterpflanze herunter und hiess mich, sofort heim zu laufen. Ich schaffte es nicht, mir wurde heiss, schlecht und schwindlig. Babu musste mich tragen. Als wir bei Mama ankamen, war mein Körper mit riesigen Pusteln übersät. Sie füllte die Badewanne und steckte ihr heulen-

des Elend ins kalte Wasser. Das half, ich überlebte die allergische Reaktion. Vielleicht hat mich damals Babu der Luba fürs Leben gelehrt, nicht nur Bäumen, sondern auch dem Wissen indigener Menschen mit Respekt zu begegnen.


Achtung lehrten mich auch die Buschfeuer. Sie bedrohten in der Trockenzeit die kunstvollen Strohdach-Lehmhäuschen des nahen Dorfes ebenso wie unser Backsteinhaus. Suchte ein Buschfeuer unser Hochplateau heim, verschonte es auch die grünen Galeriewälder entlang der Flüsschen nicht. Rückten alle Mann aus, um mit abgerissenen Ästen auf die im Gras züngelnden Flammen einzudreschen, durfte ich zusehen. Kletterte das Feuer knatternd, pfeifend und zischend die Bäume hoch, verwandelte es die Waldstreifen in infernalisch heisse Riesenfackeln.


Zum Glück erreichte keine Feuersbrunst je unsere Siedlung. Aber die Szenen haben sich mir eingebrannt. Heute lodern sie wieder auf – in meinen Erinnerungen. Wenn das Kongobecken brennt, wenn der Amazonas brennt, wenn Kanada, Sibirien, Südeuropa, Australien oder auch die Urwälder Asiens brennen, wenn halbe Kontinente unter einer giftigen Rauchwolke verschwinden, Menschen und Tiere verdampfen, Siedlungen und Städte schmelzen und nun auch die letzten Wälder unseres Planeten zu verdorren oder verkohlen drohen.


Wie bedrohlich das Verschwinden der Bäume tatsächlich ist, darüber haben Wissenschaft, Naturschützende und Medien unzählige Fakten veröffentlicht. Sie warnen seit Dekaden. Und sie bestätigten mit oft abstrakten Schilderungen über den Anstieg schädlicher Gase, was die letzten Waldvölker intuitiv immer wussten – ohne Bäume droht der Tod. Keine berechenbaren Regen, Winde und Temperaturen mehr. Keine Tiere, keine Früchte, kein Schatten, kein Bodenhalt, kein Wasser, kein Sauerstoff, kein Holz, keine Wärme und keine Nahrung mehr.



Die Bedeutung der Hängematte


Ohne Bäume auch keine Hängematten mehr. Sie sind mir mehr als Gold wert. Du suchst zwei Bäume, bindest sie an, kletterst und legst Dich hinein. Unter Dir die Erde, über Dir Blätterdach und Himmel. Du schwebst. Du kannst loslassen, schlafen, beobachten und hören. Zum Sinnieren gibt es keinen besseren Ort.


In der Hängematte, einst von Indianern aus Lianen und Rinden gefertigt, erfuhr ich Elementares. Baumkronen sind voller Leben. Dauernd fallen Kleinstpartikel herunter. Licht-

spiele und Winde, Vögel, Insekten und die unterschiedlichsten Kletterer aus dem Tierreich – von der Ameise bis zum Bären, Puma und Löwen – halten Äste, Blätter, Nadeln und Blüten in Bewegung. In Afrika lauerten hoch über mir sogar Schlangen jeder Grösse auf Beute. In den Regenwäldern Zentralafrikas, Asiens oder der beiden Amerika reicht die Sicht aus der Hängematte oft nur gerade zum nächsten Ast. Die Wesen der vielfach noch unentdeckten und einzigartigen Tier- und Pflanzenarten weit über mir aber blieben ein Geheimnis. Ebenso ihre Seelen, Geister und Götter, die den Glauben vieler Menschen prä-gen. Im entwaldeten Südchina, wo Hängematten bestenfalls noch an Hauspfeilern befestigt werden können, überlebten einzelne Baumriesen nur, weil sie als Heiligtum unangetastet blieben. So, wie andernorts auch.


Mit einem einzigen umgehauenen Altbaum können ganze Welten ausgelöscht werden, auch Vorstellungen, Symbole und Geschichten jeder Art. Hängematten ermöglichten mir, in Ruhe Gerüche zu erschnuppern – Moder und Moose, Rinden, Harze und Blütenduft. Oder Lauten zu lauschen – dem Wispern, dem Ächzen und Stöhnen, Rascheln und Rauschen, Knacken und Krachen. Herrscht aber Stille im Geäst, wirkt diese als vielsagendes Schweigen.


Unterdessen meine ich, dass sich Bäume unterhalten. In Sprachen, die ich weder hören kann noch verstehen würde. Je älter ich werde, desto mehr dünken sie mich fühlende Mitwesen zu sein. Und ich bin froh, sie beim Sterben nicht alle hören zu können. Ihre Todesschreie – in den Regenwäldern jährlich geschätzte 15 Milliarden – wären nicht zum Aushalten. Vor allem dort nicht, wo unsere Holzindustrie pausenlos die letzten Urwälder unseres Planeten attackiert. Mit immer ausgeklügelteren Maschinen Baum für Baum kappen, entasten und abtransportieren. Ich habe sie aufgesucht, die abgelegenen Waldparadiese Afrikas, Asiens und der beiden Amerika. Ich habe sie erlebt, die Schlachtfelder und Vernichtungszonen, aus denen jedes Leben herausgesägt und wegbulldozert wurde. Ich habe gesehen, wie selbst

Jahrhunderte alte Urwaldriesen mit gewaltigen Stämmen innert Minuten umgehauen werden, gehört, wie sie im Fallen splitternd, ächzend und brüllend Luft und Boden erzittern lassen. Da wurden Persönlichkeiten ausgelöscht. Und mit ihnen ganze Verwandtschaften, Netzwerke und noch unbekannte Zusammenhänge.


Nicht genug. Was jeweils über riesige Flächen an Stümpfen, Sümpfen, Öllachen, skelettalen Wurzelwerken und geschundener Erde zurückblieb, das war tot gerodet, das sicherte kein Überleben mehr. Weder den Wildtieren und auch nicht den rechtlosen Waldmenschen, die mir in stummem Schmerz zeigten, was einst ihre Heimat war – die Baka im Kongobecken, die Surui im Amazonas, die Ayoreo im Chaco, die Lílwat im kanadischen Regenwald, die Sámi in Skandinavien oder die Penan auf Borneo.



Maschinenmenschen und Supermärkte


Ihnen hatten die «Maschinenmenschen» ihre Lebensgrundlagen zerstört, sie wie die Bäume entwurzelt. Fassungslos, verstört und hilflos müssen sie bis heute, Ende 2024, zusehen, wie man sich ihrer Geburtswälder bedient, als wären es Supermärkte.


So liege ich heute als ein Zeuge selbstmörderischer Vernichtung menschlicher Lebensgrundlagen sommers jeweils in der Hängematte, befestigt zwischen zwei Eschen in unserem Garten im Schwarzwald.


Der Blick ins Spiel der Blätter schenkt nur noch selten Frieden. Zu oft pendeln meine Gedanken zwischen den zurückgelassenen Indigenen in den entwaldeten Landschaften und

meinem Leben. Versuchte ich nicht als Journalist, regelmässig auf ihre Situation hinzuweisen, um diesen Wahnsinn stoppen zu helfen? Etwas, das zahlreiche Frauen und Männer in den betroffenen Gebieten mit ihrem Leben bezahlten – als sich wehrende Jäger und Sammlerinnen, als engagierte Naturbewahrer, Menschenrechtler, Missionare, Beamte

oder Wissenschaftler beiderlei Geschlechts.


Was aber habe ich sonst noch getan, um die so lieb gewonnenen Bäume zu retten? Über mir mutiert das Blätterwerk zu einem Spiegel, in dem ich mich erkenne: ein gnadenloser

Holzverbraucher! Aus was bestehen meine Zeitungsartikel? Aus was mein Schreibtisch, mein Bett, mein Stuhl, mein Schrank? Aus was sind die Bücher, ihre Gestelle, das Kla-

vier? Aus was das Parkett, die Türen, die Treppen und Dachbalken? Aus was Kochlöffel und Salatschale? Und was liegt da verflucht nochmal schön aufgeschichtet neben Kamin und Herd? Zum Glück erhielt ich nie eine Auszeichnung – sie hinge wohl in einem Holz-Rahmen an der holzhaltigen Tapetenwand. Ja, und mit was wische ich blinder Moralist mir täglich den Hintern sauber? Eigentlich müssten mich die beiden Eschen umgehend in meiner Hängematte erschlagen.



Ohne Bäume hätte die Menschheit nie überleben können.


Wir brauchen Sauerstoff und Wetterschutz, Schatten, Wärme und Nahrung. Versuchen wir deshalb heute, Bäume in Töpfe zu zwingen oder tausend Jahre alte Bäume durch Setzlinge zu ersetzen? Dass wir Europäer einst halbe Länder kahl holzten, um daraus auch Schiffe und Waffen zur Eroberung anderer Kontinente zu bauen, ist Geschichte. Nicht so aber das Faktum, dass die Vernichtung der Wälder nirgends wirklich gestoppt ist. In Ostafrika brennen bereits die Steppenbäume auf den Kochstellen der Menschen. Nachschub kommt aus den Kongowäldern, deren Grossteil längst schon aufgeteilt ist unter den Wirtschaftsmächten dieser Welt.


Die jährliche Abholzrate wird ausgerechnet mit der praktisch baumlosen Fläche Islands geschätzt, etwa zweieinhalb Mal die Schweiz. Ob da das tägliche Baumfällen Milliarden armer Menschen zuverlässig mit einberechnet ist? Wir verbrauchen die Bäume, trotz aller Schwüre zur Nachhaltigkeit und Klimakonferenzen. Und trotz aller Beschwörungen, den letzten Wäldern und ihren Lebewesen endlich Sorge zu tragen, um auch uns zu retten. Aber wir machen weiter, fällen weiter die grössten Pflanzen, entwurzeln weiter die letzten Waldmenschen – so, als wären sie nur tote Materie.


Wie ist so etwas nur möglich? Warum verdrängen wir den Sachverhalt, dass unser Holzhunger mörderisch ist und das Dasein von Naturvölkern vernichtet? Eine alte Frage, die mir womöglich diesen Sommer mit einem leisen Blätterklingeln über der Hängematte beantwortet wurde: Wir erhöhen uns und zwingen Andersartige wie die Indigenen, Pflanzen oder Tiere in die Rolle der Minderwertigen, der Geist- und Seelenlosen. Der Trick aller Eroberer und Erobe-

rinnen, um sich effizient das Begehrte krallen zu können. Ohne Mitgefühl, ohne Hemmung und frei von Skrupel. Vielleicht stecken wir aber einfach in einem unlösbaren Dilemma und können nicht anders – als weiter abzuholzen.



Was für ein Albtraum.


Ob «meine» Schirmakazie noch steht im Katanga? Manchmal träume ich von ihr, in meiner Hängematte zwischen den beiden Schwarzwald-Eschen. Beim Aufwachen beruhigt mich regelmässig nur etwas – nie wird er gefällt werden können, mein Traumbaum.




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